Plötzlich waren sie da. Im Kleiderschrank. Am Badezimmerspiegel. Zwei kleine Aufkleber mit dem Schriftzug Danksekunde.de. Tom hatte sie angebracht, es sei eine Aktion der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau gewesen. Danke sagen, sich bewusst werden und sein, wie dankbar wir für unser Leben sein können. Dem Schönen, das uns täglich begegnet, mehr Raum geben, als all dem Unschönen, dem wir viel zu oft mehr Platz überlassen. Dabei geht es um Konditionierung. Und die lässt sich lernen, heißt es.
Meine achtjährige Nichte schenkt sehr, sehr gerne. Sei es eine Eichel, einen Stein, ein selbstgemaltes Bild, einen ungewöhnlichen Knopf - ich bekomme immer etwas von ihr, wenn ich sie besuche, wenn sie mich besucht. Bei ihrem letzten Besuch, noch eingepackt in Winterjacke und dicken Stiefeln, drückte sie mir einen Sternaufkleber in die Hand, der im Dunkeln leuchtet. Wir sehen uns nicht oft, wohnen fast 400 Kilometer voneinander entfernt. Dieser kleine Sternaufkleber ist in unserem Bad, erinnert mich an meine Nichte und gibt mir ein Gefühl tiefster Dankbarkeit und Zuversicht. Sie in meinem Leben zu wissen, ist ein riesiges Geschenk.
Nicht immer, doch recht häufig, bedanken Tom und ich uns vorm Einschlafen. Drei Dankbarkeitsmomente picken wir uns dann raus. Wir sind dankbar, dass wir uns haben, gesund sind. Wir bedanken uns für eine Blume am Wegesrand, für Vogelgesang. Für gutes Essen, das biologisch angebute Gemüse des Bauern in unserer Nachbarschaft. Für eine nette kleine Begegnung beim Spaziergang. Dass wir mit dem Rad unterwegs sind. Gute Luft atmen. Anfangs war es etwas ungewohnt. An manchen Tagen passiert vermeintlich nichts, wofür dankbar zu sein ist; nichts Großartiges, wie lieber Besuch, ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt, ein Ausflug. Da musste ich erst überlegen, wofür ich heute dankbar bin. Zu erkennen, dass es nichts Außergewöhnliches braucht, dass es darum gar nicht geht, ist schön. Der Alltag ist voller Momente der Dankbarkeit. 86.400 Sekunden hat jeder Tag. Eine Menge Dankbarkeitssekunden können da drin sein. Warum fällt es teils so schwer, dankbar zu sein, diesen Gedanken der Dankbarkeit gar nicht aufkommen zu lassen?
An manchen Tagen sehe ich nur Ärgernisse. Da wunder ich mich über den Aufdruck, dass der Käse nicht genmanipuliert sei und denke mir, dass auf Produkten, die genmanipuliert sind, stehen sollte, dass dem so ist. Ich bin genervt von den lauten Rasenmähern, die wöchentlich zum Einsatz kommen und keine Gänseblümchen dulden. Wütend über den Müll in der Natur. Auf Raser. Dass es in Deutschland kein Tempolimit gibt. Dass der Immobilienmarkt verrücktspielt. Ich bin schockiert, fassungslos, erschüttert und traurig über Gräueltaten, die an so vielen Orten auf unserer Erde geschehn. Kann nicht verstehen, dass Schottergärten blühenden Gärten bevorzugt werden. Ui, ui, ui es gibt eine Menge worüber ich mich täglich aufregen kann. Und es auch mache.
Nur wenn es mich so runterzieht, dass es mich lähmt, dann muss ich Stopp sagen. Dann konzentriere ich mich auf das, was mir gut tut und ich handle. Ich sammle Müll auf, spreche Menschen darauf an, Mülleimer zu nutzen, anstatt alles in die Landschaft zu werfen (klappt nicht immer, manchmal fehlt mir die Energie zum Austausch, aber wenn ich es mache, wird es oft doch recht konstruktiv). Pflanze Blumen. Spende. Gehe auf Demos. Fahre Rad. Dann komme ich aus der Ärgernis-Spirale raus. Und sehe, dass sich was bewirken lässt. Indem darüber gesprochen wird, es vorgelebt wird und sich eingesetzt wird. Da ist er, der Dominoeffekt.
Die Danksekunde-Aktion der Kirche ist schon einige Jahre her. Zeit für eine oder mehrer Danksekunden ist immer, selbst wenn es manchmal einer Erinnerung bedarf, wie die beiden Aufkleber in unserer Wohnung. "Wer dankt, denkt", heißt es im Dank-Mailing der Kirche. "Auch an Mitmenschen und die Natur. Und leistet seinen Beitrag." Danke dafür.
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Ilona Eilts (Freitag, 13 Mai 2022 21:48)
Du hast mir aus der Seele gesprochen, lieben Dank für Deine Gedanken über das Danken��
Marion (Samstag, 14 Mai 2022 09:55)
Völlig richtig und mal wieder ein sehr schöner Beitrag. Dankbarkeit kann so viel neue Kraft vermitteln. Und deine Nichten und Neffen geben uns allen ein Glücksgefühl und die Dankbarkeit für ihr Leben. Und, Danke,dass du uns an deinen Gedanken teilhaben lässt. Auch du bist ein ganz besonderes Menschenkind.
frankowitsch DA (Montag, 11 September 2023 11:43)
sehr schön!
und tolle fotos, v.a. das erste!
und wie früher (;-) rechtschreibe-korrektur: "das biologisch angeb(a)ute Gemüse"
;-)